23. bis 26. November
Nach den wunderbar und entschleunigten Tagen in Filandia fühlen wir uns bereit für unser nächstes Großstadt-Erlebnis und fahren mit dem Bus; klaro wie immer; nach Medellín. Fragt man die Kolumbianer wo sie, im eigenen Land, am liebsten leben möchten, so antwortet, laut einheimischen Quellen, eine überwältigende Mehrheit mit „Medellín.“ Das muss allerdings eine der jüngsten Änderungen im Land sein und verwundert uns doch im ersten Moment. War Medellín doch Jahrzehnte lang eine der gewalttätigsten und gefährlichsten Städte weltweit. Das Drogenkartell von Pablo Escobar und der kolumbianische Bürgerkrieg haben Medellín eine überaus blutige Vergangenheit beschert. Doch die Stadt hat in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur ihre Mordrate drastisch reduziert. Sie gilt heute auch als Vorzeigemodell städtischer Entwicklung. Und so schwärmen auch die Touristen mehrheitlich und euphorisch von der zweitgrößten Metropole Kolumbiens, die sich mittlerweile als eine der sichersten Städte des Landes rühmt. Wir sind entsprechend gespannt was uns erwartet.

Unsere Unterkunft wählen wir, wie wohl fast alle Touristen, im Viertel El Poblado. Hier gibt es unzählige Restaurants, Bars und hippe Cafés. Die Straßen sind modern und ordentlich, gesäumt von Fitnessclubs und Büros. Fast fühlt sich das Leben an, als wäre man in einer europäischen Großstadt. Hier können wir zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Fuß herumlaufen, was wir auch tun. Sanni hat an der ein oder anderen, vermeintlich dunklen, Straßenecke mal kurz eine kleine paranoide Anwandlung und will nicht weiter gehen. Das stellt sich im Nachhinein aber als völlig unbegründet heraus und fortan ist sie mutiger.

Comuna no. 13 San Javier
Wir haben für Medellín keinen speziellen Plan und nehmen als erste Aktivität an der viel beworbenen und als Must Do betitelten Walking Tour durch das Stadtviertel „Kommune 13“ teil. Unser Guide für die Tour ist Kevin. Im Gegensatz zu vielen anderen Tourguides trägt er keine Dienstkleidung, sondern ist in ganz normalen Alltags Klamotten (Adidas Trainingshose) unterwegs. Unsere Gruppe besteht neben uns nur noch aus zwei Amerikanern. Das ist ja schon mal super. Zusammen fahren wir mit dem öffentlichen Bus weiter in Richtung Comuna no. 13 San Javier, wie der Stadtteil ganz offiziell heißt.

Mit circa 43 Einwohnern auf 1.000 m² zählt dieser Teil Medellíns zu dem am dichtesten besiedelten Gebiet der Stadt. Die tatsächliche Zahl der Bewohner in der Comuna liegt wahrscheinlich jedoch deutlich höher. Hier sind nicht alle Menschen amtlich gemeldet und registriert. Die meisten Häuser wurden vor vielen Jahren illegal errichtet. In den unzähligen verschachtelten Häusern, die sich überwiegend an steilen Hängen befinden, leben die Menschen auch heute noch zum größten Teil in ärmlichen Verhältnissen.
Dennoch hat hier ein erheblicher Wandel Einzug gehalten.
Bis Ende der 1980er Jahren litt der Stadtteil unter dem schon erwähnten Medellín Kartell und dem anhaltenden Bürgerkrieg. Er erlangte traurige Berühmtheit durch zahlreiche blutige und tödliche Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden. Medellín verzeichnete damals mit mehr als 380 Tötungsdelikten auf 100 000 Einwohner eine der höchste Mordrate weltweit. Erst 2017 kamen nach einem offiziellen Besuch Bill Clintons, begleitet von entsprechend medialer Aufmerksamkeit, die ersten Touristen hierher. Zu dieser Zeit lag die Tötungsrate offiziell bei rund 21 Opfern auf
100 000 Einwohner. Das ist immerhin schon 18-mal weniger als 1991. 2021 lautete die offizielle Mordzahl 405 im gesamten Jahr. Bei mehr als 2,5 Millionen Einwohnern ist die Mordrate also nochmal deutlich gesunken.
Unser Guide Kevin, 27, ist hier aufgewachsen und erzählt von seinen Erinnerungen als Kind, in der die Eltern ständig zur Vorsicht mahnten und die Gewalt allgegenwärtig war. Auch heute ist hier natürlich noch längst nicht alles gut. Es gibt noch immer „No-Go“ Areas im Viertel, die selbst er meidet. Und auch das Drogenproblem ist nicht verschwunden. So erfahren wir beispielsweise, dass die Schuhe die vor einem Haus über der Stromleitung hängen, das Erkennungszeichen dafür sind, dass es hier Drogen zu kaufen gibt.
Wir haben das schon öfter mal auf Reisen gesehen und dachten es sei „Kunst“ oder ein schlechter Scherz.

Das wir nun hier entlang schlendern und munter Bilder von uns, der Umgebung und der Streetart- Kunst knipsen scheint irgendwie genauso unvorstellbar wie auch fraglich. Man mag es zurecht etwas befremdlich finden, fotografierend durch eines der immer noch ärmsten Viertel der Stadt zu schlendern. Gleichzeitig scheint der Tourismus einer der wesentlichen Schlüssel zu dem bisher schon enormen Wandels der Comuna zu sein. Junge Hip Hop Künstler führen uns ihr Tanz-und Raptalent vor, kleine Jungs zeigen uns einen Kartentrick und eine alte Dame verkauft uns handgemachte Schokolade und Eis. Die Kunst der Streetartisten wird in kleinen Galerien ausgestellt und es sind Miniaturen davon zu kaufen. Beim „schlendern“ erinnern wir uns an die unterschiedlichen Graffiti Künstler und Stile in Bogota. Und in der Tat, wir erkennen hier den ein oder anderen Künstler wieder und erkunden die Botschaften der Medellín-Graffiti-Szene. Überall gibt Essen-und Getränkestände von den Bewohnern. So verdienen alle hier ein regelmäßiges, wenn auch kleines, Einkommen.
Den Aufbruch zur Transformation in den letzten Jahren bilden die sechs orangenen, überdachten Riesen-Freiluftrolltreppen, die im Dezember 2011 eröffnet wurden. Die Anlage mit einer gesamten Länge von 348 Metern, die in sechs Abschnitte unterteilt ist überwindet einen Höhenunterschied von umgerechnet rund 28 Stockwerken und bringt uns damit gut 400 Meter höher. So wird den Einwohnern des Viertels mehr Mobilität und Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Früher war der Weg hinunter nur über die alten steilen Treppen möglich, dauerte Stunden und war deshalb insbesondere für die älteren Menschen extrem beschwerlich. Ebenfalls Teil des Fortschritts ist der Bau einer eigenen Metro Station, inklusive einer Seilbahn. Die Cable Cars sehen in etwa so aus, wie die Skigondeln in Österreich. Allerdings fahren wir mit ihnen keine schneebedeckten Berge hoch, sondern in die höchstgelegenen Wohnquartiere der Region. So können die Bewohner, für kleines Geld, von der Haustür aus direkt durch die ganze Stadt fahren. Für uns Reisende hat das den Vorteil, dass wir für 2.000 Pesos, was ungefähr 0,45 Cent sind, tolle Ausblicke ergattern können.
Downtown Medellín
Zur Erkundung des historischen Medellín nehmen wir wieder an einer Freewalking Tour teil. Unser Guide Julio ist in Medellín geboren. Seine Eltern sind, als er noch klein war, mit ihm in die USA ausgewandert. Es glich vermutlich eher einer Flucht, da ihnen die Stadt Ende der 80 Jahre zu gefährlich erschien um ein Kind großzuziehen. Als Julio volljährig war ist er jedoch wieder zurück nach Medellín gegangen, hat hier studiert und setzt sich seitdem aktiv, u.a. auch durch die Arbeit als Guide, für die positive Weiterentwicklung der Stadt ein.
Während der fast 4-stündigen Tour lernen wir sehr viel Interessantes. Zum Beispiel über die wichtigste und relevanteste Kultur in der Geschichte Kolumbiens:
Die Paisas
Das Wort Paisa stammt von dem Wort Paisano (Landmann) ab, gilt aber in Kolumbien als Beschreibung einer Subkultur der Menschen, die aus den ursprünglichsten Departamentos wie z.B. Antioquia, Quindío, und dem Nordosten des Tolimas stammen.
„Der Paisa“ gilt als produktiv, aktiv, sparsam und unternehmerisch. Auf Grund der geografischen Lage, die sehr bergig ist, waren die Paisas während der Kolonialisierung sehr unabhängig von der Kultur der Spanier, worauf man noch immer sehr stolz ist. Auch heute noch tragen viele Männer in Medellín die typische Paisa Kleidung, bestehend aus Hemd, Poncho, Cowboyhut und ganz wichtig: einer Umhängetasche. Zu Fuß tauchen wir in die trubeligen Straßen und Plätze der Stadt ein, um mehr über die Geschichte, die Entwicklung und Konflikte Medellíns zu verstehen.
Immer wieder Thema ist natürlich auch hier die dunkle und gewalttätige Vergangenheit der Stadt. Angesprochen auf den großen Mythos Pablo Escobar, bittet Julio uns um etwas Geduld und erklärt, dass wir später an einem „ruhigen Ort“ noch über dieses Theme sprechen. Pablo Emilio Escobar Gaviria, „El Patrón“, polarisiert auch heute noch. Kein Wunder; bedenkt man wie viele Menschen in “seinem Krieg“ ihr Leben verloren haben und wie viele dadurch Geld verdienten. Narcos wird hier ganz unterschiedlich, von der Mehrheit aber schlecht, aufgefasst. Während manche Straßenkinder ein T-Shirt mit dem Gesicht von El Patrón tragen, darf man seinen Namen nicht einmal laut in der U-Bahn sagen. Angekommen am Plaza San Antonio erfahren wir dann etwas mehr darüber und Julio gibt hier, ohne „Mithörer“ auch einen Einblick in seine persönliche Meinung. Ob Escobar verehrt oder verteufelt wird sowie die grundsätzliche Einstellung zu Kolumbiens Jahrzehnten der Gewalt, hängt nach seiner Meinung vom eigenen Einkommen, besonders aber von der Familienvergangenheit und dem Stand in der Gesellschaft ab. Natürlich kommen wir auch auf die Netflix Serie Narcos zu sprechen, die seiner Auffasung nach zwar relativ authentisch ist, aber leider auch zu dem Mythos und einem daraus resultierenden Narcos Tourismus beiträgt. Angeblich können zahlungskräftige Touristen auch heute noch eine „Secret Tour“ zur Kokainherstellung in den Bergen machen. Kolumbien exportiert aktuell mehr Koks als zu Escobars Zeiten.
Im Jahr 1995 hatte die Guerillabewegung Farc auf dem San Antonio Platz eine Bombe unter dem Bronzevogel des kolumbianischen Künstlers Fernando Botero versteckt. Die Explosion während eines Musikfestivals auf dem Platz tötete mindestens 30 Menschen und verletzte mehr als 200. Pablo Escobar ist zwei Jahre zuvor nur wenige Kilometer von diesem Platz entfernt erschossen worden. Der zerstörte Bronzevogel auf dem San-Antonio-Platz in Medellín erinnert als Mahnmal an die finstere Zeit. Bauch und Schwanz der Bronzestatue auf dem San-Antonio-Platz mitten in Medellín sind völlig zerfetzt. Nur der Kopf blickt stoisch in die Höhe. Im Jahr 2000 spendete Botero der Stadt einen identischen, unversehrten Vogel der seither direkt daneben steht. Die Vögel sind heute auch als Birds of Peace bekannt.

Doch wir sehen zum Glück auch sehr viele positive Aspekte und Orte. Der starke Wille zum Frieden, die kollektiven Bemühungen der Bewohner und viele verschiedene soziale Investitionen ermöglichen es uns heute in der Stadt des "ewigen Frühlings" spazieren zu gehen und uns als Touristen hier vollkommen sicher zu fühlen.
So wurden viele stadtbekannte Brennpunkte der Kriminalität in öffentliche Parks umgewandelt, um diese wieder für alle Bewohner sicherer zu machen. Heute zählen die "Plaza de Botero" und "La Libertad" sowie der „Parque de las Luces" zu den unumgänglichen Orten der Stadt. Ein weiteres sehr schönes Beispiel für die Teilhabe der Bevölkerung sind die zahlreichen, über die Stadt verteilten Sportstätten, die gegen Vorlage eines Mitgliedsausweises gratis genutzt werden können.
Um Bildung für alle zugänglich zu machen, existiert in Medellín ein System von verschiedenen Bibliotheken, deren Nutzung für alle Bewohner kostenlos ist. Darin werden nicht nur Medien bereitgestellt, sondern es gibt ein breitgefächertes Programm für alle Altersklassen, um speziell den Bewohnern der ärmeren Viertel eine Alternative zur Kriminalität zu bieten.
Natürlich ist in Medellín noch lange nicht alles super. Julio erzählt uns, das sich das Leben hinter den oberflächlichen städtebaulichen Maßnahmen für einen großen Teil der Bevölkerung noch nicht so drastisch verbessert hat, wie man auf den ersten Blick meinen möchte. Aber der eiserne Wille der Bewohner und der große Stolz auf das geschaffte sind hier für uns geradezu spürbar. Der Aufenthalt in Medellín war eindeutig einer der bewegendsten unserer Reise. Was diese Stadt in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne an Wandel geschaffen hat, beeindruckt uns sehr. Insofern erfüllen wir den Wunsch unseres Guides Julio, nur zu gerne:
Erzählt den Menschen in der Welt, wie schön und sicher es in Kolumbien und ganz besonders in Medellín ist.
Damit noch viele Menschen hierher kommen und damit den weiteren Fortschritt unterstützen!
Comments